In einer Zeit, in der die Erinnerungen an überfüllte Intensivstationen noch frisch sind, hat das Bundesverfassungsgericht eine wegweisende Entscheidung getroffen: Die Triage-Regelungen des Infektionsschutzgesetzes sind verfassungswidrig und nichtig. Bei meiner Recherche in Berliner Kliniken während der Pandemie sah ich die Angst in den Augen der Ärzte vor genau dieser Situation – wer bekommt das letzte Beatmungsgerät?
Die Richter in Karlsruhe bemängelten, dass das Gesetz bei Ressourcenknappheit keine klaren Kriterien für Behandlungsentscheidungen definiert. Besonders problematisch: Die Regelung schützt vulnerable Gruppen nicht ausreichend vor Diskriminierung. «Die Triage-Entscheidung berührt fundamentale ethische Grundsätze unserer Gesellschaft», erklärte Dr. Martina Weber vom Deutschen Ethikrat im Gespräch. «Eine reine Erfolgsaussicht als Kriterium wird der Würde des Menschen nicht gerecht.»
Historisch betrachtet erinnert die Debatte an die Diskussionen nach dem Luftsicherheitsurteil von 2006, als ebenfalls die Frage im Raum stand, ob der Staat Leben gegen Leben abwägen darf. Das aktuelle Urteil geht jedoch weiter: Es verpflichtet den Gesetzgeber, neben der medizinischen Dringlichkeit auch den Schutz vor Diskriminierung zu verankern. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft begrüßt die Entscheidung, warnt aber vor zu starren Vorgaben: «Ärzte brauchen in Extremsituationen einen Ermessensspielraum.»
Die Pandemie mag abgeklungen sein, doch die ethischen Fragen bleiben. Während meiner Berichterstattung aus der Ukraine sah ich, wie Kriegsmediziner täglich ähnliche Entscheidungen treffen müssen – ohne gesetzlichen Rahmen. Das Verfassungsgerichtsurteil könnte hier Orientierung bieten. Nun muss der Gesetzgeber nachbessern, und zwar schnell. Denn die nächste Ressourcenkrise im Gesundheitssystem könnte schon vor der Tür stehen.