In Krisensituationen, wenn Intensivbetten und Beatmungsgeräte knapp werden, stehen Ärzte vor unmöglichen Entscheidungen: Wer erhält lebensrettende Behandlung, wenn nicht alle versorgt werden können? Die Corona-Pandemie hat diese ethische Frage aus medizinischen Fachkreisen in die öffentliche Debatte katapultiert. Das Bundesverfassungsgericht hat nun ein wegweisendes Urteil gefällt: Das 2022 verabschiedete Triage-Gesetz ist teilweise verfassungswidrig.
Die Karlsruher Richter haben entschieden, dass der Staat keine Kriterien vorgeben darf, nach denen Ärzte in Extremsituationen Leben bewerten sollen. Die umstrittene «Ex-post-Triage» – also die Möglichkeit, bereits begonnene Behandlungen zugunsten anderer Patienten abzubrechen – wurde als unvereinbar mit der Menschenwürde eingestuft. Der Gesetzgeber hatte versucht, die Erfolgsaussicht einer Behandlung als entscheidendes Kriterium festzulegen, doch genau diese staatliche Bewertung menschlichen Lebens hat das Gericht nun untersagt.
«Wir können nicht per Gesetz festlegen, welches Leben mehr wert ist», erklärte Professor Martin Dietrich von der Deutschen Gesellschaft für Medizinethik. «Das Urteil schützt die ärztliche Entscheidungsfreiheit in tragischen Situationen, die nie durch starre Regeln ersetzt werden kann.» Die ethischen Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften bleiben jedoch weiterhin wichtige Orientierungshilfen.
Besonders bedeutsam: Das Gericht stärkt den Diskriminierungsschutz für vulnerable Gruppen. Menschen mit Behinderungen hatten geklagt, weil sie befürchteten, bei Triage-Entscheidungen systematisch benachteiligt zu werden. Ihre Sorge war nicht unbegründet – historische Erfahrungen zeigen, dass in Krisensituationen oft diejenigen benachteiligt werden, die ohnehin am Rand der Gesellschaft stehen.
Die Entscheidung löst jedoch nicht alle Probleme. Ärzte stehen in Extremsituationen weiterhin vor kaum lösbaren ethischen Dilemmata. Das Urteil erinnert uns daran, dass wir als Gesellschaft mehr in präventive Maßnahmen und robuste Gesundheitssysteme investieren müssen, damit solche tragischen Entscheidungen möglichst selten getroffen werden müssen. Denn wenn wir eines aus der Pandemie gelernt haben, dann dies: Kein Arzt sollte je entscheiden müssen, wessen Leben mehr wert ist.