In den frühen Morgenstunden des 23. Juni erwachte Charkiw unter ohrenbetäubendem Lärm. Der schwerste russische Luftangriff seit Kriegsbeginn traf die zweitgrößte Stadt der Ukraine mit voller Wucht. Während die Sirenen heulten, eilten Ärzte und Pflegekräfte durch die Korridore des Stadtkrankenhauses Nr. 4, das selbst von Trümmern umgeben war. Mindestens 28 Menschen verloren ihr Leben, über 70 wurden verletzt – Zahlen, die mich an die dunkelsten Tage meiner Berichterstattung aus der Ostukraine 2014 erinnern.
Die medizinische Infrastruktur steht am Rande des Zusammenbruchs. «Wir operieren unter Bedingungen, die niemand in Deutschland je erleben musste», berichtet Dr. Olena Kovalchuk, Chirurgin am zentralen Notfallkrankenhaus. Während wir sprechen, vibrieren die Wände vom Einschlag einer weiteren Rakete. Die Energieversorgung im Operationssaal wird kurzzeitig unterbrochen – ein alltägliches Risiko für medizinisches Personal, das unter Kriegsbedingungen arbeitet. Laut WHO wurden seit Februar 2022 über 1.300 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine registriert – ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konventionen.
Die Parallelen zur Belagerung von Sarajevo in den 1990er Jahren sind erschreckend. Damals wie heute verwandeln sich Krankenhäuser von sicheren Häfen in potenzielle Zielscheiben. Der Unterschied: Die moderne Kriegsführung mit Präzisionswaffen lässt weniger Raum für «versehentliche» Treffer. Die psychischen Folgen für die Bevölkerung sind verheerend. «Die Kinder reagieren nicht mehr auf Alarme», berichtet Sozialarbeiterin Nataliya, «sie haben sich an das Undenkbare gewöhnt.»
Die humanitäre Lage in Charkiw zeigt exemplarisch, wie Gesundheitssysteme zu Indikatoren für die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft werden. Während internationale Hilfsorganisationen medizinisches Material liefern, fehlt es weiterhin an Spezialisten für Traumabehandlung. Die entscheidende Frage bleibt unbeantwortet: Wie lässt sich ein funktionierendes Gesundheitssystem aufrechterhalten, wenn Krankenhäuser selbst zu Frontlinien werden? Eine Antwort darauf wird nicht nur über das Schicksal der Menschen in Charkiw entscheiden, sondern auch darüber, wie wir künftig humanitäre Hilfe in Konfliktzonen gestalten müssen.