Die Intensivstation des Universitätsklinikums Leipzig an einem Montagmorgen: Eine 68-jährige Patientin wird mit akutem Nierenversagen eingeliefert. Die diensthabende Ärztin hat keinen Zugriff auf die Vorgeschichte der Frau, die in einer anderen Klinik behandelt wurde. «In solchen Momenten wird der Preis unseres Datenschutzsystems in Deutschland spürbar«, erklärt Dr. Katja Meier, Oberärztin für Nephrologie. «Wertvolle Zeit geht verloren, während wir auf Unterlagen warten oder Tests wiederholen müssen.»
Deutschland gilt international als Vorreiter im Datenschutz, doch im medizinischen Bereich zeigt sich die Kehrseite dieser Haltung. Nach Angaben des Bundesverbands Gesundheits-IT gehen jährlich etwa 150.000 potenzielle Forschungsdatensätze verloren, weil die Einwilligungsverfahren zu komplex sind. Im Vergleich dazu hat Dänemark mit seinem zentralen Gesundheitsregister die Sterblichkeit bei bestimmten Krebsarten um 8% senken können.
«Wir bewegen uns in einem Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem medizinischen Fortschritt», so Professor Werner Hahn vom Deutschen Ethikrat. «Die aktuelle Gesetzgebung stammt aus einer Zeit, in der die Digitalisierung der Medizin noch nicht absehbar war.» Die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) schafft zwar einen einheitlichen Rahmen, wird in Deutschland jedoch besonders streng ausgelegt.
Für viele Patienten ist das System frustrierend. «Ich muss meine Befunde immer selbst mitbringen und bin oft überrascht, dass Ärzte nicht auf meine Daten zugreifen können», sagt Michaela Berger, die seit Jahren an Multipler Sklerose leidet. Diese Erfahrung erinnert an die frühen 2000er Jahre, als Finnland ähnliche Probleme hatte, bevor es sein digitales Gesundheitssystem reformierte.
Die Politik hat das Problem erkannt. Das neue Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll Anfang 2025 in Kraft treten und zumindest für die Forschung Erleichterungen bringen. «Wir müssen den Spagat schaffen zwischen Datensouveränität und Datennutzung», erklärt Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Doch viele Experten zweifeln, ob die Maßnahmen ausreichen werden.
Ich frage mich oft, ob wir in Deutschland unser Verhältnis zum Datenschutz in der Medizin neu definieren müssen. Die Balance zwischen Datenhoheit und Patientenwohl scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Während wir über komplexe Einwilligungsformulare diskutieren, entgehen uns Chancen für bessere Diagnosen und Therapien. Wie viele Leben könnte ein moderneres System retten? Diese Frage bleibt vorerst unbeantwortet.