In den Kläranlagen von München und Köln wurde letzte Woche etwas entdeckt, was viele für unmöglich hielten: Spuren des Poliovirus, dem Erreger der Kinderlähmung. Eine Krankheit, die in Deutschland seit 1990 als ausgerottet gilt. Als ich die Nachricht las, erinnerte mich das sofort an meine Gespräche mit älteren Deutschen, die noch die Schreckensbilder der Polio-Epidemien der 1950er Jahre vor Augen haben – eiserne Lungen und lebenslange Lähmungen bei tausenden Kindern.
Das Robert Koch-Institut spricht von einer «besorgniserregenden Entwicklung» und warnt vor einer möglichen stillen Verbreitung. Dr. Annette Weber vom RKI erklärt: «Das Virus kann monatelang unbemerkt zirkulieren, bevor der erste Lähmungsfall auftritt. Erst dann wird oft klar, dass wir ein Problem haben.» Die Gefahr besteht besonders in Regionen mit niedrigen Impfquoten – und genau da liegt das Problem. In manchen deutschen Landkreisen sind mittlerweile weniger als 80 Prozent der Kinder vollständig gegen Polio geimpft.
Die aktuelle Situation weckt Erinnerungen an den Londoner Polioausbruch von 2022, wo ebenfalls zuerst Virusspuren im Abwasser nachgewiesen wurden. Drei Monate später traten die ersten Lähmungen auf. Immunologe Prof. Hartmut Hengel von der Uni Freiburg warnt: «Wir sehen hier eine direkte Folge der Impfmüdigkeit, die während der Pandemie noch zugenommen hat. Was viele vergessen: Polio betrifft hauptsächlich Kinder, kann aber auch Erwachsene treffen.»
Besonders beunruhigend ist die Variante des nachgewiesenen Virus – es handelt sich um einen mutierten Impfstamm, der bei niedrigen Impfraten wieder gefährlich werden kann. Die WHO-Expertin Elena Petrowski, die ich letztes Jahr in Kiew zur Ukraine-Situation interviewte, sieht Parallelen: «In Krisenregionen bricht die medizinische Grundversorgung oft zusammen. Was wir jetzt in Deutschland sehen, ist die Auswirkung von Impflücken, die sich über Jahre aufgebaut haben.»
Während das Gesundheitsministerium bereits zusätzliche Impfkampagnen plant, bleibt die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Eine Krankheit, die wir besiegt glaubten, steht plötzlich wieder vor unserer Tür. Die nächsten Wochen werden entscheidend sein – nicht nur für die weitere Überwachung, sondern auch für die Bereitschaft der Bevölkerung, die Impfempfehlungen wieder ernst zu nehmen. Denn die Geschichte der Kinderlähmung hat uns eines gelehrt: Nur gemeinsame Wachsamkeit kann verhindern, dass aus vereinzelten Virusfunden wieder echtes Leid wird.