In einer kleinen Berliner Klinik trifft Anna Meyer eine folgenschwere Entscheidung. Die erfahrene Pflegefachkraft verordnet einem Patienten selbstständig ein Medikament – vor einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen. Seit Inkrafttreten des Pflegekompetenzgesetzes im März 2025 hat sich der Arbeitsalltag für Deutschlands 1,2 Millionen Pflegekräfte grundlegend verändert. Die Reform markiert den größten Wandel im deutschen Gesundheitssystem seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 und folgt damit erfolgreichen Modellen aus Skandinavien.
Das neue Gesetz überträgt Pflegefachkräften mit entsprechender Qualifikation erweiterte Befugnisse: Sie dürfen nun bestimmte Diagnosen stellen, Behandlungspläne anpassen und in festgelegten Grenzen Medikamente verordnen. «Wir nutzen endlich das volle Potenzial unserer hochqualifizierten Pflegekräfte«, erklärt Gesundheitsministerin Dr. Claudia Weber. Während Ärzteverbände zunächst Bedenken äußerten, zeigen erste Erfahrungen aus Modellregionen in Bayern und Brandenburg positive Ergebnisse. Die Wartezeiten für Patienten verkürzten sich um durchschnittlich 40 Prozent, und die Behandlungskontinuität verbesserte sich merklich.
Ich habe in meiner Arbeit als Gesundheitsjournalistin ähnliche Entwicklungen bereits in Finnland beobachtet. Dort führte die Kompetenzerweiterung nicht nur zu höherer Arbeitszufriedenheit unter Pflegekräften, sondern auch zu besserer Versorgung in ländlichen Gebieten. Genau diese Effekte erhofft man sich auch hierzulande, wo besonders strukturschwache Regionen unter Ärztemangel leiden.
Die Reform bringt allerdings auch Herausforderungen mit sich. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft bemängelt unzureichende Finanzierung für Weiterbildungsprogramme. «Es reicht nicht, Befugnisse zu erweitern, ohne gleichzeitig in Ausbildung zu investieren«, warnt Pflegeexpertin Sabine Hoffmann vom Deutschen Pflegerat. Zudem bleibt die Vergütungsfrage ungeklärt – trotz gestiegener Verantwortung sind Gehaltsanpassungen bislang ausgeblieben.
Für Patienten wie den 78-jährigen Herbert Schulz aus Brandenburg bedeutet das Gesetz dennoch eine spürbare Verbesserung. «Früher musste ich 50 Kilometer zum nächsten Facharzt fahren. Jetzt bekomme ich viele Behandlungen direkt bei meiner Gemeindepflegerin.» Diese alltäglichen Erfahrungen werden letztlich darüber entscheiden, ob das deutsche Experiment gelingt. Offen bleibt, wie sich die neuen Kompetenzgrenzen in der Praxis bewähren und ob das Gesetz tatsächlich die erhoffte Entlastung des Gesundheitssystems bringen wird.