Kein klarer Einstiegspunkt, keine Zwischenräume im Ballett mehr – der Saal der Rheinoper Düsseldorf pulsiert seit gestern im Rhythmus der französischen Avantgarde. Maurice Ravels Werke «Daphnis et Chloé» und «Boléro» bilden die Grundlage für ein Tanzspektakel, das die Grenzen zwischen Tanz, Musik und Publikum verschwimmen lässt. Über 800 Besucher erlebten die Premiere des neuen Ballettabends «Soirée Ravel».
Die Choreografin Marie Doucet hat etwas gewagt, was in Düsseldorf lange nicht zu sehen war: Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich nicht nur auf der Bühne, sondern auch zwischen den Sitzreihen. «Wir wollen die vierte Wand durchbrechen«, erklärt Doucet im Gespräch nach der Vorstellung. «Ravels Musik hat diese Unmittelbarkeit, diese Präsenz – warum sollten wir sie durch Distanz abschwächen?»
Besonders beeindruckend ist die Neuinterpretation des «Boléro«, bei der die 24 Tänzerinnen und Tänzer zunächst wie isolierte Individuen beginnen und sich allmählich zu einem atemberaubenden Kollektiv vereinen. Die Lichtregie von Jan Hoffmann erschafft dabei räumliche Dimensionen, die das historische Opernhaus in ein Kaleidoskop aus Bewegung und Farbe verwandeln.
Ich habe selten ein Düsseldorfer Publikum so erlebt – zwischen Staunen und Euphorie, mitgerissen von der Intensität der Inszenierung. Eine ältere Dame neben mir, die nach eigener Aussage «seit 40 Jahren ins Ballett geht«, flüsterte atemlos: «Endlich mal wieder was Neues!»
Die «Soirée Ravel» ist mehr als nur ein weiteres Ballett im Spielplan der Rheinoper. Es ist ein Statement für die Erneuerungsfähigkeit klassischer Kunstformen. Der Ballettabend läuft noch bis Ende Oktober. Die meisten Vorstellungen sind bereits ausverkauft – wer noch Karten ergattern will, sollte nicht zögern. Düsseldorf hat damit wieder einmal bewiesen, dass es mehr ist als nur Einkaufsmetropole und Altbierhauptstadt: Es ist und bleibt ein Ort für mutige Kunst.