An trüben Herbsttagen stehen sie da: Warteschlangen vor Münchens beliebtesten Lokalen. Gestern zählte ich 48 Menschen vor dem Augustiner am Platzl – bei Nieselregen. Das Phänomen breitet sich aus: vom Viktualienmarkt bis zum Café Frischhut. Laut Münchner Tourismusamt gehören diese Warteschlangen mittlerweile zu den meistfotografierten Motiven der Stadt – noch vor der Frauenkirche.
Die Bereitschaft der Münchner, für bestimmte Genüsse anzustehen, hat sich zu einer Art Stadtkultur entwickelt. «Das Warten gehört zum Erlebnis», erklärt Kulturwissenschaftlerin Dr. Sabine Roth von der LMU. «Es schafft Vorfreude und signalisiert Exklusivität.» Vor dem Steinheil-Kino stehen Menschen seit Jahrzehnten für Arthouse-Filme an, obwohl längst online Tickets verfügbar sind.
Als ich neulich mit einem Kollegen aus Hamburg sprach, wunderte er sich: «In Hamburg wechseln die Leute einfach das Lokal, wenn’s voll ist.» Nicht so in München. Hier hat das Anstehen fast meditative Qualität. Man kommt ins Gespräch, tauscht Insider-Tipps aus.
Besonders beeindruckend: Die Schlange vor der Eisdiele Ballabeni, die sich auch bei fünf Grad noch über den ganzen Platz zieht. Max Ballabeni schmunzelt: «Manche Gäste kommen wegen der Schlange – wer nicht wartet, glaubt, etwas zu verpassen.»
Das gemeinsame Warten schafft Gemeinschaft in einer zunehmend individualisierten Stadt. Ein Stück Münchner Identität, das im Zeitalter der Sofortbefriedigung fast rebellisch wirkt. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum dieses Ritual trotz aller Digitalisierung überlebt.